Zum 60. Todestag von Richard Dietrich
17. Juli 2023
Einem selbstlosen Streiter für die Rechte der Arbeitenden, antifaschistischen Widerständler,
NS-Verfolgten, VVN-Aktivisten und Kommunalpolitiker!
Text und Foto: Dr. Werner Dietrich
Mein Großvater, dem diese Zeilen gewidmet sind, erblickte am 13. April 1885 im damaligen Leipziger Vorort Stötteritz das Licht der Welt. Als gelernter Former trat er 1903 der Metallarbeitergewerkschaft und 1906 der SPD bei. Nach Betätigungen als Former, Gewerkschafter, SPD-Mitarbeiter (ab 1917 USPD), Weltkriegssoldat und Angehöriger des Leipziger Arbeiter und Soldatenrates verschlug es ihn 1921 nach Zeitz, wo er Betriebsrätesekretär und Leiter der Rechtsabteilung beim Ortsauschuss des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes wurde. Zudem fungierte er als Ortsvorsitzender der USPD (ab 1922 wieder SPD).
Als sich in Verknüpfung mit der Weltwirtschaftskrise und deren schwerwiegenden sozialen Auswirkungen Ende der 1920er Jahre die faschistische Gefahr verstärkte, stand Richard in Wort und Schrift (auch als Magistratsmitglied der SPD im Zeitzer Rathaus) als Mahner in vorderster Reihe. Die Folge waren Hassattacken der örtlichen Nazis. Nichtsdestoweniger engagierte er sich antifaschistisch in der Eisernen Front. Noch zwei Tage vor der Machtübertragung an die Hitlerregierung, rief er am 28. Februar 1933 in einer SPD-Versammlung die Ortsgruppe der KPD zur gemeinsamen „Kampffront“ gegen den „faschistischen Spuk“ auf, da vorher die Kommunisten sehr starke Vorbehalte („Sozialfaschismusthese“) gegen ein gemeinsames Handeln lautstark deutlich gemacht hatten. Ein Annäherungsprozess, der Anfang Februar 1933 nach antifaschistischen Demonstrationen (von SPD und KPD getrennt aufgerufen) begann, führte schließlich zu einer gemeinsamen Massendemonstration (ca. 12000 Teilnehmer) gegen die Hitlerregierung im Garten des Gewerkschaftsheimes in der Zeitzer Freiligrathstraße. Auf dem Gebäudedach reichten sich Richard und der Vertreter der KPD, Max Benkwitz (1889-1974), die Hand zum gemeinsamen Kampf, was reichsweit eher die Ausnahme blieb.
Derweil richtete das sich etablierende Nazi-Regime seinen ersten terroristischen Hauptschlag auf die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung und deren bekannten Protagonisten. So auch gegen Richard Dietrich. Vorsorglich hatte Ehefrau Anna eine Fahne des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Zeitz“ von 1869, die in der Wohnung aufbewahrt wurde, in die Matratze des damals achtjährigen Sohns Werner eingenäht. Natürlich ohne dessen Wissen. Trotz zahlreicher Hausdurchsuchungen ist die Fahne während der gesamten Nazizeit niemals gefunden wurden.
Dann kam die Verhaftung. Nach der Zerschlagung der freien Gewerkschaften im Mai 1933 (Ende Juni der SPD) wurde Richard in die sogenannte „Schutzhaft“ genommen. Zunächst im Zeitzer Polizeigefängnis eingesperrt, erfolgte der Transport ins „Polizeisammellager Weißenfels“ (Wachpersonal Polizei und SA-, SS-, Stahlhelm-Hilfspolizei), welches im dortigen Schloss eingerichtet war. Die schon dort unmenschliche Behandlung der Gefangenen steigerte sich mit der Überstellung ins neu eingerichtete Konzentrationslager Lichtenburg Anfang August 1933 erheblich. Die Polizeiwachen ersetzten bald und alleinig die (späteren) SS-Totenkopfverbände. Abgesehen von den katastrophalen Bedingungen der Unterkunft, Sanitäranlagen und Verpflegung wurde Richard auch Augenzeuge von gezielten Quälereien der Häftlinge durch die SS. Insbesondere der einstige Mitstreiter aus Zeitz, der junge Reichsbanner-Mann Helmut Fritz (1912-1943 vermisst Strafbataillon 999 Ostfront), wurde permanent schwer misshandelt. Gegen Jahresende meinte das Regime stark genug zu sein, um einige Häftlinge entlassen zu können. Freilich mit Verschwiegenheitsklausel und permanenter Polizeiüberwachung am Wohnort. Auch Richard kam am 29. September 1933 (stark eingeschränkt) wieder frei.
Die folgende Zeit war durch Arbeitslosigkeit, Gelegenheitstätigkeiten und einer an Not leidender Familie geprägt. Dennoch war Richard nach seiner KZ-Entlassung wieder mit dem einstigen Funktionär des Metallarbeiterverbandes Halle-Merseburg, Willy Rößler (1884-1957), in Kontakt gekommen. Jener koordinierte ein Netz des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Widerstands in der Region. Unterstützt wurde er in Zeitz von Richard und Anderen, die örtliche Informationen über Stimmungslage und Wirtschaftsdaten sammelten. Willy Rößler leitete diese über Berlin und Dresden an den Exilvorstand der SPD in Prag weiter. Anfang 1935 wurde die Gestapo Willy Rößlers habhaft. Damit geriet auch Richard ins Visier der Geheimpolizei. Allerdings erbrachten diesbezügliche Hausdurchsuchungen nichts, weil Richard die gesuchten illegalen Schriftmaterialien in den Nistkästen von Vögeln und einer hohlen Bismarckbüste versteckt hatte. Auf einer von der Gestapo Halle angelegten Beobachtungsliste der einstigen SPD- und Gewerkschaftsfunktionäre stand er aber weiter ganz oben.
Diese Liste sollte Jahre später eine erhebliche Rolle spielen. Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 nutzte die Gestapo in der sogenannten „Aktion Gitter“ solche Listen, um aller tatsächlichen oder vermeintlichen „Staatsfeine“ habhaft zu werden. Unter diese „Staatsfeinde“ fiel auch Richard, der am 22. August 1944 erneut in „Schutzhaft“ genommen wurde. Über die Polizeigefängnisse in Zeitz und Weißenfels, die Gestapo in Halle und dem Polizeigefängnis von Berlin am Alexanderplatz verbrachten sie ihn am 8. September ins Konzentrationslager Sachsenhausen.
Im berüchtigten Massenlager erhielt Richard die Nr. 101608 und wurde zunächst dem Block 67 zugeteilt. Später, als er im Außenlager „Klinkerwerk“, der „Todesfabrik“, für die deutsche Rüstungsindustrie schuften musste, hauste er in Block 10. Die unsäglichen Zustände im Lager schilderte Richard kurz nach der Befreiung vom Faschismus. Diese Aussagen sind in meiner Schrift „Die deutschen Opfer der NS-Gewaltherrschaft in Zeitz und Umgebung, Halle 2020, S. 121ff.“ ausführlich aufgegriffen. Der geneigte Leser möchte sich bitte dort informieren. Als die Alliierten im Februar 1945 im Reichsgebiet standen, sollte Richard ins Sterbelager Bergen-Belsen evakuiert werden. Seine Effekten waren dorthin schon unterwegs. Durch Glück oder Zufall entging er diesem Schicksal und wurde am 28. Februar überraschend entlassen. Frau und Tochter erkannten den ausgemergelten Mann kaum wieder. Zwei Monate später erlebte er die Befreiung vom Faschismus im Familienkreis.
Obschon körperlich geschwächt, stellte er sich von Anbeginn in einem antifaschistischen Komitee für die Sicherung der Lebensgrundlagen der Bevölkerung und dem Aufbau antifaschistischer Verhältnisse zur Verfügung. Wie fast alle ehemaligen Zeitzer SPD-Funktionäre trat Richard in die KPD (ab 1946 SED) über, die sich aus der Antifa heraus entwickelte. Nachhaltig galt ihm die Arbeit in der 1947 gegründeten VVN. Namens derer legte er am 10. September 1950 während einer Massendemonstration den Grundstein für das monumentale Denkmal der Opfer des Faschismus auf dem Zeitzer Friedensplatz (heute Altmarkt, Denkmal in Randlage umgesetzt).
Seinerzeit agierte er schon länger als Stadtrat für Volksbildung. Die Weitergabe seines Erfahrungsschatzes an die Jugend lag ihm besonders am Herzen. Für sein unermüdliches Wirken ehrte ihn die Stadt Zeitz 1950 mit der Ehrenbürgerschaft. Im wohlverdienten Ruhestand setzte er sich verstärkt und quellengestützt mit der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung und der Faschismusforschung auseinander. Publizistisch zeugen davon zahlreiche Beiträge in der Presse und der Heftreihe „Zeitzer Heimat“.
Am 25. Januar 1963 verschied Richard Dietrich friedlich in seiner Wohnung. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung fand er seine letzte Ruhestätte auf einem Ehrenhain des Zeitzer Michaelisfriedhofs.