Rückblick Film + Gespräch „Die Rote Kapelle“
30. März 2024
Bildungswochen gegen Rassismus, Film, Halle
Am 21. März haben wir zu einer Filmvorführung ins Puschkino eingeladen, um den Film „Die Rote Kapelle“ zu zeigen. Der Film von Claus-Ludwig Rettinger beschreibt die Akteurinnen als Teil eines weitverzweigten und internationalen Netzwerkes zum Widerstand gegen den deutschen Faschismus. Er weist insbesondere auf die Komplexität hin und kritisiert historische Betrachtungen in West und Ost. In der BRD galten die Widerstandskämpfer*innen etwa bis in die Nuller-Jahre als „Vaterlandsverräter*innen“, es gab erst viel zu spät eine Rehabilitierung und alte faschistische Richter urteilte über diejenigen, die sich gegen die deutsche Barbarei stellten.
Wir bedanken uns bei den Organisator*innen der Bildungswochen, die wieder vielfältig und fantastisch waren. Außerdem bedanken wir uns beim Soli-Fonds der Linksfraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt für die Förderung und natürlich bei allen Zuschauer*innen.
Mehr zum Film findet ihr hier: http://farbfilm-verleih.de/filme/die-rote-kapelle/
Zu Beginn der Filmvorführung hat unsere Landesvorsitzende Gisela Döring die „Rote Kapelle“ historisch eingeordnet.
Einordnung
Im Namen des LV VVN-BdA Sachsen-Anhalt begrüße ich Sie herzlich zu unserer Veranstaltung. Sie ist Teil der Bildungswochen von Halle gegen Rechts – Bündnis für Zivilcourage, in dem wir Mitglied sind. Gleichzeitig begehen wir heute den Internationalen Tag gegen Rassismus, der von der UNO zum Gedenken an das Massaker 1960 in Sharpeville/Südafrika, verübt von dem damaligen Apartheidregime, erinnert. Wir zeigen heute den Dokumentarfilm „Die Rote Kapelle“. Vorläufer waren der berühmte DEFA-Film und eine deutsch-französische Serie. Aus beiden Spielfilmen montierte der Regisseur des Dokumentarfilms markante Spielszenen. Leider kann der Regisseur Carl Ludwig Rettinger heute nicht hier sein, würde sich aber über Zuschriften von Ihnen freuen. Auch den Sohn der Widerstandskämpfer Hilde und Hans Coppi, Ehrenvorsitzender der Berliner VVN-BdA, können wir aus Krankheitsgründen nicht begrüßen. Sie erleben ihn nachher im Filminterview. Als Historiker war er maßgeblich an der Entstehung der Dokumentation beteiligt. Da wir aus den dargelegten Gründen kein Filmgespräch haben, hier eine kurze Einführung zum Thema „Die Rote Kapelle“.
Als Deutschland durch die verbrecherischen Überfälle auf die Völker Europas, durch die Vernichtungskriege und den industriemäßigen Mord an jüdischen Menschen, an Sinti und Roma, zur Schande der Welt wurde, da gab es im faschistischen Deutschland nur wenige, die sich diesem inneren und äußerem Terror widersetzten. Zu diesen Wenigen, die der Welt zeigten: es existiert noch ein anderes, ein anständiges, ein ehrenhaftes deutsches Land, gehörte „Die Rote Kapelle“. Die sich heute durchgesetzte Namensbezeichnung geht auf Fahndungen der Sonderkommission der Gestapo zurück. Der ursprüngliche Name, Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe orientierte sich an den beiden führenden Widerstandskämpfern, Harro Schulze-Boysen und Dr. Arvid Harnack. Sie war eine der bedeutendsten und größten Widerstandorganisationen, entstanden aus einer Reihe kleinerer Berliner Gruppen, in den ersten Jahren des II. Weltkrieges. In ihr versammelten sich Menschen aus der organisierten Arbeiterbewegung, in der Hauptsache der KPD, SPD und Gewerkschaften, Wissenschaftler, Künstler, Lehrer, Ärzte, Soldaten, Offiziere, Gläubige und Atheisten. Vorherrschendes Grundmotiv der Organisation war ein ethisch motivierter Sozialismus. Ihr gemeinsames Ziel war, den von Deutschland entfesselten, mörderischen Krieg zu beenden, den Faschismus nieder zu ringen, um damit eine Katastrophe von Deutschland abwenden zu können und danach ein deutsches Land in Frieden und sozialer Gerechtigkeit aufbauen. Theoretische Grundlagen dafür boten Gesprächskreise und Schulungszirkel, geleitet von Dr. Arvid Harnack, der als Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Einsicht und Überblick in räuberische politisch-ökonomische Kriegsstrategien hatte, sowie von Harro Schulze-Boysen, der als Oberleutnant im Reichsluftfahrtministerium Zugang zu militärischen Plänen und ihrer Umsetzung hatte. Diese Beratungen mündeten in sorgfältig vorbereiteten, aber auch spontanen Aktionen. Sie waren darauf gerichtet, die von den demagogischen Versprechungen der Nazis, der Blitzkriege und Sondermeldungen der ersten Kriegsjahre manipulierten Menschen aufzurütteln, sie über die Lügen des Regimes aufzuklären, sie zum Erkennen ihrer wahren Lage und damit zum Handeln zu bringen. Im Mittelpunkt standen Flugblattaktionen mit kurzen Texten zur aktuellen Kriegslage, verbunden mit Aufrufen, sich dagegen zu wehren, Gleichgesinnte zu suchen, sich zusammenzuschließen. Fast zwei Jahre erschien die illegale Zeitung „Die innere Front“ für die vor allem der Schriftsteller und Dramaturg Dr. Adam Kuckhoff, der in Halle studiert hatte, und es bis 1989 an der MLU einen Preis seines Namens gab, sowie John Sieg, deutsch-amerikanischer Journalist, Kommunist, Beiträge schrieben. Die „Innere Front“ enthielt Lageanalysen und Aufrufe: „Deutsches Volk, nimm dein Schicksal in die eigene Hand!“
Über John Sieg, der, über Mitglieder anderer Widerstandsgruppen, beste Verbindungen zu Betrieben pflegte und so auch zu Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, gelangten diese kleinen Zeitungen und Flugblätter auch in russischer, französischer und italienischer Sprache zu diesen Bestimmungsorten, wurden versendet, ausgelegt, in Briefkästen geworfen, … Sie tauchten in Hamburg und Stuttgart auf.
Adam Kuckhoff, John Sieg und Harro Schulze-Boysen erarbeiteten Texte zu „Briefe an die Ostfront“, in denen sie die Soldaten zur Desertion aufforderten. Eine der spektakulärsten Aktionen war die große Klebeaktion anlässlich der denunziatorischen Ausstellung „Das Sowjetparadies“. Am frühen Morgen prangte in 5 Berliner Stadtbezirken in Riesenlettern der Anti-Text „Das Nazi-Paradies. Krieg. Lüge. Hunger. Gestapo. Wie lange noch?“
Von da ab trat die Gestapo auf den Plan, suchte fieberhaft nach den Verursachern. Fest etabliert in die Widerstandsarbeit waren praktische Hilfen für Angehörige von Gefangenen, lebensgefährliche Fluchthilfen und Verstecke für jüdische Menschen. Besonders beteiligt daran waren das Künstlerehepaar Elisabeth und Kurt Schumacher sowie die Ärztin Elfriede Paul, später nach der Befreiung in Hessen, Ministerin. Dort, mit anderen Gleichgesinnten, trat sie für eine weitgehend antikapitalistische Entwicklung ein. Nach deren Scheitern arbeitete sie in verantwortlichen Funktionen als Ärztin in der DDR. Ihre Kampfgenossin, Hilde Coppi, informierte Anfang der 40er Jahre Angehörige über Grüße von Kriegsgefangenen über das Abhören von Radio Moskau. Neben der inneren Front war ein Hauptziel der Widerstandsorganisation, ihr Wissen, ihre Einblicke in Planungen des faschistischen Regimes, an die überfallenen Völker weiterzugeben, um ihnen dabei zu helfen, den faschistischen Feind zu besiegen.
Dr. Arvid Harnack, der ein 2. Studium Nationalökonomie, in den USA absolvieren konnte, hatte gute Kontakte zur amerikanischen Botschaft, ebenso zur sowjetischen. Über Studienreisen in die SU waren ihm die polit-ökonomischen Grundlagen dieses Landes vertraut. Er und Harro Schulze-Boysen konnten regelmäßig die sowjetische Botschaft über wichtige ökonomische und militärische Kriegsplanungen informieren. Es wurden darüber zu Kundschaftern des sowjetischen Geheimdienstes in Paris und Brüssel Kontakt aufgenommen. Der hergestellte Funkkontakt von Berlin aus kam allerdings wegen technischer Schwierigkeiten nicht zustande. Der aufmerksam gewordenen Gestapo gelang es schließlich, einen Funkspruch zu dechiffrieren und darüber an einzelne Namen und Adressen zu kommen. Die Verhaftungen von 130 Mitgliedern der Widerstandsorganisation erfolgten zwischen August 1942 bis März 1943. Die Gefangenen wurden grausam gequält und gefoltert. Vom Volksgerichtshof und Reichskriegsgericht verurteilt, wurden 57 Todesurteile gefällt, darunter 19 Frauen, Hilde Coppi, die im Gefängnis ihren Sohn Hans zur Welt brachte und nach einem Jahr von ihm Abschied nehmen musste, Libertas Schulze-Boysen, die über einen längeren Zeitraum Gewaltverbrechen der deutschen Faschisten dokumentieren und weiterleiten konnte, Gräfin Erika v. Brockdorff, die ihre Wohnung für illegale Treffs zur Verfügung stellte…Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen erlitten den qualvollen Tod durch den Strang.
Die Erinnerungskultur In beiden deutschen Staaten nach der Befreiung vom Faschismus war, bezogen auf die „Rote Kapelle“, diametral. In der DDR wurden Straßen und Plätze, viele Schulen nach den Widerstandskämpfern benannt. Zahlreiche Publikationen würdigten ihren mutigen Kampf gegen den Faschismus. In der BRD galten sie als Landesverräter. Hauptanteil an dieser Klassifizierung hatte der als Blutrichter Hitlers bezeichnete Reichskriegsgerichtsrat, Dr. Manfred Roeder, der die brutalen Todesurteile gefällt hatte. Überlebende Mitglieder der „Roten Kapelle“, wie Greta Kuckhoff, Präsidentin der Notenbank in der DDR, Mitglied des Weltfriedensrates, dem Frederic Joliot-Curie, Pablo Picasso, Ilja Ehrenburg u. a. angehörten und das ehemalige Mitglied der Roten Kapelle, der Schriftsteller Günter Weißenborn, die gegen Roeder einen Prozess anstrengten, kamen gegen die damalige bundesdeutsche Justiz, damals durchsetzt von ehemaligen Nazis, nicht durch. Das damalige Diktum hieß: was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Und, durch ihren Geheimnisverrat hätte sie den Tod tapferer deutscher Soldaten in Kauf genommen. Die Kriminalisierung der Widerstandskämpfer, die gegen das verbrecherische System des deutschen Faschismus gekämpft hatten, konnte erst nach langem Kampf von linken Parteien im Jahre 2009 beendet werden. Ein deutscher Skandal! Ehre dem Andenken, den Mitgliedern der Schulze-Boysen/Harnack -Gruppe für ihren Kampf gegen den Faschismus, für ihren Kampf, endlich für die Weltgemeinschaft Frieden zu schaffen.
Der Schwur von Buchenwald, am 19. April 1945 auf dem Appellplatz von den sich selbst befreiten, internationalen Häftlingen abgelegt, darunter auch von ehemaligen Mitgliedern der „Roten Kapelle“, ist heute noch gültig: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Gisela Döring