Mehr Fragen als Antworten – Zu 80 Jahren Massaker von Gardelegen

11. April 2025

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Die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe (GFI) Gardelegen in Sachsen-Anhalt erinnerte am Sonntag, 6. April 2025, mit einer Gedenkfeier an das faschistische Endphaseverbrechen, unter dem Thema „Fragen der Schicksalsklärung. An mehr als 1.016 KZ-Häftlingen, die am 13./14. April 1945 bei einem Massaker in der rund einen Kilometer nordöstlich der Stadt gelegenen Isenschnibber Feldscheune und bei Todesmärschen um Gardelegen, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, ihres Lebens beraubt und ermordete wurden. Sie kamen aus verschiedenen der fast 40 Außenlager des KZ Mittelbau-Dora, am Kohnstein bei Nordhausen und aus Hannover-Stöcken, einem der etwa 90 Außenlager des KZ Neuengamme, südöstlich vom Zentrum Hamburg-Bergedorf. Die nun Anfang April 1945 Frontnah geworden und daher auf unmenschliche Räumungstransporte getrieben worden sind.

Bis 2015 wurde die Stätte in der Altmark, die zwischen 1949 und 1971 in mehreren Bau- und Entwicklungsabschnitten entstand, als Mahn- und Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune bezeichnet. Ihren aktuellen Namen vereinbarten die Hansestadt Gardelegen und die Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt gemeinsam in einem Vertrag zur Überführung der vormals kommunalen Gedenkstätte in die Trägerschaft des Landes Sachsen-Anhalt.

Wie konnte es zum System der Konzentrationslager (KZ) im Herrschaftsbereich des Deutschen Reiches kommen? Für die geplante rassistische Umgestaltung der deutschen Gesellschaft wurden Orte gebraucht, um politische Gegner, Systemkritiker und Oppositionelle sowie rassistische und soziale Verfolgte zu isolieren. Die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat setzt am 28. Februar 1933 den Artikel 114 der Weimarer Verfassung (Schutz der persönlichen Freiheit) außer Kraft. Dies diente als legalistische Grundlage für die Schaffung der Konzentrationslager. Damit konnten Personen ohne Gerichtsurteil und auf unbestimmte Zeit in ein Konzentrationslager eingewiesen und gefangen gehalten werden. Insgesamt gab es unter der Inspektion der Konzentrationslager 24 KZ-Stammlager, denen zuletzt über 1.000 Außenlager, teilweise unter der Bezeichnung „Außenkommando, -lager, Nebenlager“, organisatorisch unterstellt waren. Experten berechneten insgesamt rund 42.500 faschistische Lager, einschließlich Außen-, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager, sogenannte Ghettos und Judenhäuser, Zwangsbordelle sowie Heime für Euthanasieopfer. Es gab nach 1940 zudem sieben Vernichtungslager. Bedeutsamer als die Produktion in KZ-eigenen Betrieben wurde der Häftlingseinsatz in Privatunternehmen, sodass mehrere der Tausend KZ-Außenlager im Zusammenhang mit Rüstungsprojekten entstanden. 1944/45 fand das KZ-Lagerwesen seinen infernalen Höhepunkt. Kripo und Gestapo nahmen noch einmal massenhafte und wahllose Verhaftungen vor, um in der zusammenbrechenden Kriegsgesellschaft jeden Widerstandswillen auszuradieren. Die Zahl der Häftlinge stieg von 524.000 im August 1944 auf 714.000 Anfang 1945. Gleichzeitig verschlechterten sich die Überlebenschancen in den Lagern dramatisch, da die Versorgung der Häftlinge unter dem Existenzminimum gesunken war. In sogenannten „Quarantänezonen“ und reinen „Sterbelagern“ wie Bergen-Belsen wurden die geschwächten und kranken Häftlinge ohne Hilfe und Schutz einem qualvollen Tod überlassen. Schätzungsweise 800.000 bis zu einer Million Menschen starben in diesen Stätten brutalster Willkür durch Arbeit, Hunger, Gewalt oder gezielte Tötungen; nur etwa 300.000 Häftlinge erlebten die Befreiung bei Kriegsende.

Dieses Gefangenenlager-System stellte ein wesentliches Element des faschistischen deutschen Herrschafts- und Unterdrückungsapparates dar. Es diente der industriellen Ermordung von Millionen Menschen, insbesondere des rassistisch begründeten Völkermords. Zur Beseitigung von politischen Gegnern, der Versklavung und Ausbeutung der KZ-Häftlinge durch Zwangsarbeit zugunsten der SS und der beteiligten Industriekonzerne. Der unmenschlichen und unethischen Menschenversuche sowie der gegen das Völkerrecht verstoßenden Internierung von Kriegsgefangenen.

Die Befreiung der Lagerinsassen erfolgte nach der Flucht der Wachmannschaften durch die alliierten Truppen. Im KZ Buchenwald durch die am 11. April 1945 um 10:30 Uhr begonnene und teilweise bewaffnete Selbstbefreiungsaktion, durch eine bis dahin konspirative wirkende Internationale Militärorganisation (IMO) unter der Leitung des Internationale Lagerkomitee (ILK) der politischen Häftlinge, bis hin zur Übernahme der Lagerleitung im unmittelbaren Zusammenhang des Vormarschs der US-Truppen. Um 17 Uhr trafen die ersten US-Soldaten am Lagertor ein. Damit vollzog sich erfolgreich sowohl eine „Lagerbefreiung von innen“ als auch eine „Befreiung von außen“. Als letztes Lager wurden Mauthausen und sein Nebenlager Ebensee in Österreich am 5. Mai 1945 befreit.

Mit dem Zusammenbruch des KZ-Lagersystems war die Leidensgeschichte der Opfer jedoch nicht beendet: Die Mehrheit der ehemaligen Häftlinge litt unter schweren körperlichen und psychischen Spätfolgen und konnten über ihre Traumatisierung über Jahrzehnte nicht einmal im Familienkreis reden. Dagegen gelang es vielen Tätern und Täterinnen, ins Ausland zu fliehen oder zeitweise unterzutauchen, sich partiell unter gefälschter Identität eine neue Existenz aufzubauen und/oder blieben gänzlich politisch wie juristisch unbehelligt. Zwar wurden SS-Lagerbürokratie und Wachmannschaften zunächst von den Militärgerichten der Alliierten, dann auch in deutschen Justizverfahren belangt, jedoch blieb die Zahl der Beschuldigten relativ niedrig und die verhängten Strafen oft mild, endeten mit Freispruch oder vorzeitiger Haftentlassung. Die Entnazifizierung geriet schon bald ins Spannungsverhältnis des Kalten Krieges und wurde oft mit Blick auf den größtmöglichen Nutzen in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz geführt und stand damit häufig unter großem politischem Handlungsdruck. Über viele Jahrzehnte wurde das begangene Unrecht – entgegen den weitreichenden Kenntnissen über die tatsächlichen Ausmaße der Verbrechen, nicht dementsprechend geahndet. Politisches Taktieren, gegenseitiges Diskreditieren und die „Schlussstrich-Mentalität“ in beiden deutschen Staaten führte dazu, dass die Täterinnen und Täter der massenhaften Verbrechenskomplexe nur selten angemessen zur Rechenschaft gezogen wurden. Erst der Prozess gegen den Wachmann Demjanjuk 2011 brachte mit der Abkehr von der Gehilfen-Rechtsprechung einen späten neuen Schub für die Verfolgung von faschistischen Verbrechen.

„Wer sich nicht konsequent abgrenzt, der macht sich schuldig gegenüber dem Schwur von Buchenwald“, betonte Christian Wulff bei der Kritik an der in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften AfD. „Wir tragen eine dauernde, fortwährende, ewige Verantwortung, denn das Böse darf niemals wieder siegen.“ Das forderte der Bundespräsident a. D. mit Blick auf den 80. Jahrestag der Befreiung von der Gesellschaft ein.

Immer mehr Nachkommen wollen wissen: Was ist tatsächlich passiert? Wo ist mein Familienangehöriger begraben? Wie kam er zu Tode? Fragen über Fragen, die auch achtzig Jahre nach dem Hitlerfaschismus zig tausendfach noch ungeklärt sind. „Ein Spannungsfeld – zwischen familiärer Spurensuche und gesellschaftlicher Verantwortung“ – betonte Gedenkstättenleiter Stefan Winzer, zur Eröffnung des digitalen Gedenkbuches der GFI. Das helfen soll: „Denn Fragen der Schicksalsklärung sind keine Fragen der Vergangenheit, sondern Fragen an uns heute. Sie fordern uns wissenschaftlich, menschlich, politisch. Es ist Ausdruck einer Haltung, dass Namen zählen, dass Geschichte nicht anonym bleibt und Erinnerung nicht im Rückblick verharren darf, sondern nach vorn fragen muss, denn die Täter wollten das Gegenteil. Sie wollten die Opfer nicht nur töten, sondern auch unkenntlich machen. Ihre Körper sollten verbrannt oder verscharrt, ihre Namen vergessen, ihre Spuren getilgt werden.“

Klaus-Peter Schuckies

Das digitale Gedenkbuch ist ein Angebot zur selbstständigen und interessengeleiteten Recherche nach Informationen über Ermordete und Überlebende des Massakers von Gardelegen. www.gedenkbuch-gardelegen.de

Gedanken und eine geschichtliche Zusammenfassung, unter der Zuhilfenahme der Quellen: das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Nicola Wenge 24.01.2006

Klaus-Peter Schuckies
Landesvorstand

Fotos: Klaus-Peter Schuckies